Rechtsterrorismus: Bayern will NSU-Serie erneut durchleuchten (2024)

Aus der Serie: Störungsmelder

Noch immer ist im Komplex NSU zu viel unklar. Bayern setzt darum einen neuen Untersuchungsausschuss ein. Einem Opfer schulden die Abgeordneten besonders viel Aufklärung.

Von Tom Sundermann

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Die Bombe steckt in einer Taschenlampe. Sie explodiert, als Mehmet O.* auf den Einschaltknopf drückt, kurz nachdem er die Lampe beim Putzen in der Herrentoilette seiner Nürnberger Kneipe entdeckt hat. Wie sie dorthin gekommen ist, weiß der damals 18-Jährige nicht. Er sieht einen Blitz, hört einen Knall, die Druckwelle schleudert ihn zurück.

Die Wochen nach dem Tag der Explosion, dem 23. Juni 1999, verbringt der schwer verletzte Mehmet O. mit starken Schmerzen. Die folgenden Jahre mit großer Angst und hohen Schulden aus seiner gescheiterten Existenz. Und beinahe zwei Jahrzehnte mit der Frage: Wer hat mir das angetan?

Heute gilt die Antwort darauf als gesichert: Der Bombenanschlag war Teil der rechtsextremen Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Die Taschenlampe hatten die Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dort abgelegt; unklar ist, ob die Mittäterin Beate Zschäpe davon wusste. Es war die erste terroristische Tat des NSU. Vieles anderes daran ist bis heute unklar – einschließlich der Frage, warum die Ermittler damals voreilig einen rechten Hintergrund ausschlossen. Wie bei zwei weiteren Bombenanschlägen und zehn Morden, die in den kommenden Jahren folgten.

In Bayern soll sich von Mai an ein Untersuchungsausschuss im Landtag den vielen blinden Flecken widmen, wieder einmal. Schon von 2012 bis 2013 hatte der Freistaat eine Kommission eingesetzt, genau wie sieben andere Bundesländer und der Bundestag, hinzu kommt der fünfjährige NSU-Prozess in München. Doch noch immer, elf Jahre nach Aufdeckung der Gruppe, ist der Wunsch nach mehr Information groß. "Wir klauben all das auf, was zwischen den Ausschüssen und dem Prozess liegen geblieben ist", sagt der designierte Ausschussvorsitzende Toni Schuberl von den Grünen, dessen Fraktion die neuerliche Aufarbeitung zusammen mit der SPD beantragt hat.

Hätte die Mordserie verhindert werden können?

Liegen geblieben ist demnach insbesondere der Taschenlampenanschlag von Nürnberg. Erst zu Beginn des Gerichtsverfahrens 2013 wurde die Verbindung zwischen der Gruppe und der Tat von 1999 bekannt. Da waren die meisten Asservate bereits vernichtet. Im Urteil erkannte das Gericht die Tat zwar als Werk des NSU an, tiefgehende Ermittlungen aber waren ausgeblieben.

Deshalb wollen die Fraktionen im bayerischen Landtag bis Herbst des kommenden Jahres Zeugen befragen und Akten sichten, haben einen Katalog mit insgesamt 236 Fragen erstellt. In 15 davon geht es um den Anschlag von Nürnberg. Die Abgeordneten möchten wissen: Was hat die Polizei über die Auswahl des Tatorts erfahren? Was ist über mögliche Helfer bei der Vorbereitung bekannt? Warum verdächtigten die Ermittler das Opfer, es sei selbst in den Anschlag involviert?

Das Muster, die Schuld bei den Opfern zu suchen, wiederholte sich bei den türkisch- und griechischstämmigen Opfern und ihren Familien des NSU ein ums andere Mal. Gerade in Bayern, wo fünf der zehn Morde begangen wurden, leben bis heute viele Angehörige, denen die Ermittlungen als zusätzliches Trauma in Erinnerung sind. Hinzu kommt: "Hätte man den Taschenlampenanschlag anständig untersucht, hätte dann die Mordserie verhindert werden können?", fragt Politiker Schuberl.

Die Antwort bedingt eine Forschung in der Vergangenheit. Doch die dürfte sich nicht leicht gestalten. Auf eine erste Anfrage an die Staatsregierung nach einer Übersicht der Akten zu rechtsextremen Netzwerken in Bayern habe man die Replik erhalten, dies sei eingedenk des Aufwands nicht ohne Weiteres möglich. Schuberl schließt daraus, dass das Material bis dato noch nie vernünftig gesichtet worden ist. Stolpersteine wie dieser ärgern den Vorsitzenden der Allianz gegen Rechtsextremismus in Nürnberg, Stephan Doll: "Ich kann das nicht verstehen. Es gibt kein Argument, dass man das jetzt nicht richtig aufklärt."

Viele Hinweise auf Helfer am Ort

Aufzuklären gibt es dabei mehr als genug. Die Abgeordneten stellen in ihrem Katalog Fragen zu Informanten des Verfassungsschutzes, zur Rolle der Ermittler, zum mannigfaltigen Unterstützernetzwerk, dem Organisationen mit klingenden Namen wie Blood & Honour oder Hammerskins zugerechnet werden. Es sind Gesinnungsgenossen, die auch heute noch aktiv sind. "Das ist auch für die Zukunft", sagt Doll. Auch Schuberl sagt: "Es ist gefährlich, nichts von solchen Strukturen zu wissen."

Dass Helfer am Ort aktiv waren, wie auch in anderen Bundesländern, drängt sich regelrecht auf. 2011, nachdem die NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhardt Suizid begangen hatten, warf jemand eine DVD mit dem Video, in dem sich die Gruppe zu den Taten bekannte, in den Briefkasten der Nürnberger Nachrichten ein. Beate Zschäpe war zu der Zeit nachweislich im Norden und Osten der Republik auf der Flucht. Wer sich als Zusteller verdingte – bis heute unbekannt.

Dass ein weiterer Ausschuss das Rätsel lösen kann, ist unwahrscheinlich. Einen Erfolg verspricht sich Schuberl aber in jedem Fall: "Am Ende werden wir sagen können: Wir haben alles getan, was möglich war, um das aufzuklären."

Die Erkenntnisse, handelt es sich auch nur um Details, könnten auch Mehmet O. interessieren, das Opfer des Taschenlampenanschlags. Nachdem 2013 der Zusammenhang zwischen NSU und der Bombentat hergestellt worden war, wurde er zwar zu einer Vernehmung einbestellt. Doch erst kurz vor dem Urteil erfuhr er von Journalisten, dass Rechtsextremisten im Verdacht stehen, ihn beinahe umgebracht zu haben. Die Polizei hatte ihm nie etwas davon erzählt.

*Name von der Redakion geändert

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